Cover
Titel
Testfall Münsterlingen. Klinische Versuche in der Psychiatrie, 1940–1980


Autor(en)
Meier, Marietta; König, Mario; Tornay, Magaly
Erschienen
Zürich 2019: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
336 S., 11 SW-Abb., 19 Farb-Abb.
Preis
CHF 38.00; € 38,00
von
Silas Gusset

In den letzten Jahren rückten klinische Medikamentenversuche immer stärker in den Fokus der schweizerischen Psychiatriegeschichte. Die Thurgauer Klinik Münsterlingen mit Roland Kuhn, Pionier der Antidepressivaforschung und langjähriger Oberarzt sowie Direktor der Klinik, gehörte zu den ersten psychiatrischen Einrichtungen, die öffentlich für ihre Tests mit neuen psychoaktiven Stoffen in die Kritik geriet. Nach und nach erhärtete sich der Eindruck, dass Kuhn zwischen 1940 und 1980 unter ethisch fragwürdigen Bedingungen nicht zugelassene Versuchspräparate an zahlreiche PatientInnen verabreichte – ohne deren Wissen und Zustimmung.

Um den Anschuldigungen auf den Grund zu gehen, gab der Kanton Thurgau 2015 eine historische Aufarbeitung in Auftrag. Daraus ging die Studie Testfall Münsterlingen hervor, die dank des umfangreichen privaten Nachlasses von Roland und Verena Kuhn (45 Laufmeter) tief in die Praxis klinischer Versuche in der Schweiz blicken lässt. Die sorgfältig durchgeführte Studie verbindet einen chronologischen mit einem thematischen Aufbau. Die fünf Hauptkapitel verfolgen Kuhns Karriere als klinischer Prüfer und verorten seine Methoden im historischen Kontext. Thematische Schlaglichter auf die ProbandInnen (Kap. 3), fatale Zwischenfälle (Kap. 7) und Material- sowie Finanzflüsse zwischen den Basler Pharmafirmen und Münsterlingen (Kap. 5) ergänzen die bisweilen dichten Schilderungen in den chronologischen Kapiteln.

Kuhn gehörte zu den ersten klinischen Prüfern in der Schweiz. Die langjährige Zusammenarbeit mit der Basler Firma Geigy nahm ihren Anfang in den 1940er Jahren (Kap. 1). Damals hatte die Pharmaindustrie der Psychiatrie, abgesehen von Schlaf- und Beruhigungsmitteln mit hohem Suchtpotential, noch kaum etwas zu bieten. Die ersten Versuche in Münsterlingen, welche die Studie nachweist, drehten sich um das sogenannte «Parpanit». Unter Fachleuten galt die Substanz als Hoffnungsschimmer für die Behandlung von Bewegungsstörungen. Rückblickend erwies sie sich als zweifacher Türöffner, zum einen für Kuhns Karriere als klinischer Prüfer, zum andern für die Firma Geigy, die mit dem Medikament ihren ersten grossen Auftritt auf dem pharmazeutischen Markt feierte.

In Kapitel 2 widmet sich die Studie den ereignisreichen 1950er Jahren, in denen Kuhn rasch zum seriellen Prüfer aufstieg und mit «Tofranil», dem weltweit ersten Antidepressivum, seinen grossen Coup landete. Kuhns Prüfmethoden waren explorativ, seine Versuchsanlagen offen angelegt. Er war ein exakter Beobachter, der statistischen Auswertungen zeitlebens skeptisch gegenüberstand, selbst als sie ab den 1960ern zum geläufigen Methodenhandwerk gehörten. Seine Verfahren machten ihn zu einem begehrten Mann in der klinischen Prüflandschaft. Phasenweise führte er mehrere Tests parallel durch und kombinierte freihändig Prüfstoffe mit bereits registrierten Medikamenten. Der Übergang zwischen Test und Standardtherapie war oft fliessend. Mahnungen von Basler Pharmaunternehmen gab es selten, auch weil klinische Versuche zu dieser Zeit nur geringen Regulierungen unterlagen. Testfall Münsterlingen verliert nie den Kontext aus dem Blick und historisiert die Massstäbe, an denen Kuhns Versuche gemessen werden, ebenso wie die Prüfungen selbst – das ist eine der grossen Stärken der Studie.

Kuhns Probandenauswahl folgte oft klaren Mustern (Kap. 3). Grundsätzlich wählte er für die Prüfungen ein breites Spektrum an PatientInnen, unabhängig vom sozialen Status. Auch Kinder und Jugendliche im Ambulatorium erhielten Prüfsubstanzen. Es gibt aber keine Hinweise darauf, dass Heimkinder systematisch betroffen waren. Verträglich-keitsprüfungen hingegen führte Kuhn häufig gezielt bei chronisch Schwerkranken durch. Zudem fällt der Studie ins Auge, dass auch das Pflegepersonal, vor allem Schwestern, bisweilen Prüfstoffe erhielt – dieser Befund eröffnet ein neues Blickfeld für die Psychopharmakaforschung. Laut Kuhn sei das Pflegepersonal geeignet gewesen, da es sachkundig über die Wirkung eines Präparats Auskunft geben könne. Eine Aufklärung der Betroffenen fand aber nicht immer statt. An diesem neuralgischen Punkt betont die Studie, dass es aus empirischer Sicht schwer zu beurteilen sei, ob und inwieweit die PatientInnen über die Versuche informiert waren. Verschiedene Indizien sprechen aber dafür, dass die PatientInnen bis in die 1980er Jahre nur fragmentarisch informiert wurden. Ein prägnantes Beispiel dafür ist Kuhns Praktik der Einfärbung: 1960 etwa regte er an, eine neue Prüfsubstanz wie das bereits zugelassene «Tofranil» einzufärben, «sodass die Patienten gar nicht merken, wenn sie ein anderes Präparat bekommen» (S. 111).

Wie die Studie in Kapitel 4 darlegt, gab es aber bereits in den 1960er Jahren Bemühungen um eine stärkere Regulierung der klinischen Tests. Der Contergan-Skandal von 1962 schaffte in einer Zeit, in der Medikamente zu Massenkonsumgütern aufstiegen, ein neues Risikobewusstsein. Nach den USA verschärfte auch die Interkantonale Kontrollstelle für Heilmittel die Anforderungen bei der Arzneimittelzulassung. Für die Pharmafirmen stellten sich dadurch neue Kosten-/Nutzen-Abwägungen. Damit erklärt die Studie, weshalb die grosse Innovationswelle der Nachkriegszeit in den 1960ern abflachte. Ethische Überlegungen hinkten diesen Entwicklungen nach. Zwar verankerte der Weltärztebund 1964 mit der Deklaration von Helsinki das Prinzip des «informed consent» (informierte Einwilligung) in der Medizinethik. Dieses Bewusstsein gelangte aber stark verzögert in die Schweiz. Erst 1970 veröffentlichte die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften vergleichbare Richtlinien für Forschungen am Menschen. Kuhns Methoden hielten mit diesen Standardisierungswellen nicht Schritt, er entwickelte sich in den 1960ern allmählich zu einem «anachronistischen Prüfer» (S. 269).

Bevor die Studie in die 1970er Jahre übergeht, liefert sie in Kapitel 5 die nackten Zahlen: Zwischen 1940 und 1980 gelangten knapp drei Millionen Versuchspräparate nach Münsterlingen, die grössten Lieferungen erfolgten zwischen 1957 und 1965. Mindestens 67 Substanzen wurden in Münsterlingen getestet, mindestens 3000 Menschen waren von den Versuchen betroffen. Alle diese Berechnungen sind konservativ, die Dunkelziffern mutmasslich sehr hoch. Für eine saubere statistische Auswertung seien die Quellenbestände schlicht zu wenig zuverlässig. Die Dimensionen der «Versuchsstation Münsterlingen» lassen sich aber ohnehin nur schwer verorten, da zu anderen Kliniken der Schweiz keine vergleichbaren Arbeiten vorliegen. Auch zu den 36 fatalen Zwischenfällen (Kap. 7), die sich kurz oder lang nach einer Prüfung ereigneten, müssen Fragen offenbleiben. Die Todesfälle lassen sich nicht zweifellos mit den Versuchssubstanzen in Verbindung bringen. Die AutorInnen schätzen, dass Kuhn mit Honoraren und Erfolgsbeteiligungen ein privates Vermögen von, auf heute umgerechnet, rund acht Millionen Franken erwirtschaftete. Wiederholt bezeichnete er die Prüfungen als «persönliches Werk» in seiner «Freizeit» (S. 183) und ignorierte dabei die Tatsache, dass der gesamte Betrieb in die Tests involviert war.

In den 1970er Jahren blieben die grossen Durchbrüche aus (Kap. 6). Kuhn war unterdessen Klinikdirektor und hauptsächlich mit der Öffnung der Psychiatrie beschäftigt. Das Zeitalter der Doppelblindstudien drängte den altmodischen Prüfer an den Rand. Nach der Pensionierung 1980 beschäftigte er sich zunehmend mit der eigenen Biografie (Kap. 8). Kuhn war bis ans Lebensende um seine wissenschaftliche Hinterlassenschaft Bemüht.

Zitierweise:
Gusset, Silas: Rezension zu: Meier, Marietta; König, Mario; Tornay, Magaly: Testfall Münsterlingen. Klinische Versuche in der Psychiatrie, 1940–1980, Zürich 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (2), 2021, S. 390-392. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00088>.

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